Leseprobe
Am Abend flaute der Wind plötzlich ab und schlief
dann völlig ein.
Er war auf den Balkon getreten. Am Tage konnte er zwischen den gegenüberliegenden
Häusern das Meer erkennen.
Aber jetzt war es dunkel. Manchmal nahm er sein altes englisches Miniaturfernglas
mit hinaus und schaute in die erleuchteten Fenster des Hauses auf der
anderen Straßenseite. Aber es endete immer damit, daß ihn
das Gefühl beschlich, jemand habe ihn entdeckt. Der Himmel war
sternenklar. Schon Herbst, dachte er. Vielleicht bekommen wir heute
nacht Frost. Obwohl es für Schonen ziemlich früh ist. Irgendwo
in der Nähe fuhr ein Auto. Ihn fröstelte, und er ging wieder
hinein. Die Balkontür klemmte. Auf dem Block neben dem Telefon
auf dem Küchentisch notierte er sich, daß er am nächsten
Tag die Tür reparieren mußte. Dann ging er ins Wohnzimmer.
Einen Augenblick blieb er in der Tür stehen und ließ seinen
Blick durch das Zimmer wandern. Weil Sonntag war, hatte er geputzt.
Es gab ihm stets ein Gefühl von Zufriedenheit, sich in einem vollkommen
sauberen Zimmer zu befinden. An der einen Schmalseite stand ein Schreibtisch.
Er zog den Stuhl vor, knipste die Arbeitslampe an und holte das dicke
Logbuch heraus, das er in einer der Schubladen aufbewahrte. Wie üblich
begann er damit, das am Abend zuvor Geschriebene durchzulesen. Samstag,
der 4. Oktober 1997. Der Wind war den ganzen Tag böig. Laut Wetterdienst
8-10 Meter pro Sekunde. Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Temperatur
um sechs Uhr früh sieben Grad. Um zwei Uhr war sie auf acht Grad
gestiegen. Am Abend auf fünf gesunken. Danach hatte er nur noch
vier Sätze geschrieben.
Der Weltraum ist heute leer und öde. Keine Nachrichten.
C antwortet nicht. Alles ist ruhig. Er schraubte den Deckel vom Tintenfaß
und tauchte die Stahlfeder behutsam ein. Er hatte sie von seinem Vater
geerbt, der sie seit seinem ersten Tag als Assistent des Geschäftsführers
in einer kleinen Bankfiliale in Tomelilla aufbewahrt hatte. In sein
Logbuch schrieb er nie mit einer anderen Feder. Er schrieb, daß
der Wind abgenommen hatte und dann völlig eingeschlafen war. Auf
dem Thermometer am Küchenfenster hatte er gesehen, daß die
Temperatur drei Grad betrug. Der Himmel war klar. Er notierte außerdem,
daß er die Wohnung geputzt und dafür drei Stunden und fünfundzwanzig
Minuten gebraucht hatte. Zehn Minuten weniger als am Sonntag davor.
Außerdem hatte er einen Spaziergang zum Sportboothafen gemacht
und eine halbe Stunde in der Kirche Sankta Maria gesessen und meditiert.
Er überlegte, bevor er fortfuhr. Dann schrieb er eine weitere Zeile
ins Logbuch. Am Abend kurzer Spaziergang.
Er drückte das Löschpapier vorsichtig auf das Geschriebene,
wischte die Feder ab und schraubte den Deckel des Tintenfasses wieder
auf. Bevor er das Logbuch zuklappte, blickte er auf die alte Schiffsuhr,
die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Sie zeigte zwanzig Minuten
nach elf. Er ging in den Flur, zog seine alte Lederjacke an und stieg
in ein Paar Gummistiefel. Bevor er die Wohnung verließ, fühlte
er nach, ob er die Schlüssel und die Brieftasche eingesteckt hatte.
Als er auf die Straße hinaustrat, blieb er reglos im Schatten
stehen und blickte um sich. Es war niemand zu sehen. Das hatte er auch
nicht erwartet. Dann fing er an zu gehen. Er bog wie gewöhnlich
nach links ab, überquerte die Straße nach Malmö und
ging hinunter zu den Kaufhäusern und dem roten Backsteingebäude,
in dem das Finanzamt untergebracht war.
Er beschleunigte seine Schritte, bis er seinen üblichen ruhigen
Abendrhythmus gefunden hatte. Tagsüber ging er schneller, weil
er sich anstrengen und ins Schwitzen geraten wollte. Doch die Abendspaziergänge
waren etwas anderes. Da versuchte er, die Gedanken des Tages abzuschütteln
und sich auf den Schlaf und den kommenden Tag vorzubereiten. Vor dem
Baumarkt führte eine Frau ihren Hund aus.Einen Schäferhund.
Er begegnete ihr fast jedesmal, wenn er seinen Abendspaziergang machte.
Ein Wagen fuhr in hohem Tempo vorüber. Am Steuer erkannte er einen
jungen Mann und hörte Musik, obwohl die Wagenfenster geschlossen
waren. Sie wissen nicht, was sie erwartet, dachte er. Alle diese Jugendlichen,
die in ihren Autos herumfahren und so laute Musik hören, daß
ihre Ohren in absehbarer Zeit geschädigt sind. Sie wissen nicht,
was sie erwartet. Ebensowenig wie die alleinstehenden Damen, die mit
ihren Hunden Gassi gehen. Der Gedanke belebte ihn. Er dachte an all
die Macht, an der er teilhatte. Das Gefühl, einer der Auserwählten
zu sein. Die über die Kraft verfügten, alte versteinerte Wahrheiten
zu Fall zu bringen und ganz neue und unerwartete zu erschaffen. Er blieb
stehen und schaute zum Sternenhimmel auf. Nichts ist wirklich faßbar,
dachte er. Mein eigenes Leben ebensowenig wie die Tatsache, daß
das Licht der Sterne, die ich jetzt sehe, schon eine unendliche Zeitspanne
hierher unterwegs gewesen ist. Das einzige, was dem Ganzen eine Spur
von Sinn geben kann, ist das, was ich tue. Das Angebot, das ich vor
fast zwanzig Jahren bekommen und angenommen habe, ohne zu zögern.
Er ging weiter, jetzt schneller, weil ihn die Gedanken erregten, die
sich in seinem Kopf entwickelten. Er merkte, daß er ungeduldig
geworden war. Sie hatten so lange gewartet. Endlich näherten sie
sich dem Augenblick, wo sie ihre unsichtbaren Visiere herunterklappen
und ihre große Flutwelle über die Erde hinwegrollen sehen
würden. Doch noch war der Augenblick nicht gekommen. Noch war die
Zeit nicht reif. Ungeduld war eine Schwäche, die er sich nicht
erlauben durfte. Er hielt inne. Er befand sich schon mitten im Villenviertel.
Weiter wollte er nicht gehen. Kurz nach Mitternacht wollte er im Bett
liegen. Er machte kehrt und ging langsam zurück. Als er das Finanzamt
hinter sich gelassen hatte, entschloß er sich, zum Bankomat an
einem der Kaufhäuser hinüberzugehen. Er tastete mit der Hand
nach seiner Brieftasche. Er wollte kein Geld abheben. Aber er wollte
sich einen Kontoauszug ausdrucken lassen, um sicherzugehen, daß
alles seine Ordnung hatte. Er blieb im Licht vor dem Geldautomaten stehen
und zog seine blaue Scheckkarte hervor. Die Frau mit dem Schäferhund
war jetzt verschwunden. Aus Richtung Malmö kommend, donnerte ein
Laster vorbei. Wahrscheinlich wollte er mit einer der Fähren nach
Polen. Dem Lärm nach zu urteilen war der Auspuff defekt. Er gab
seine Geheimnummer ein und drückte anschließend auf die Taste
Kontoauszug. Die Karte kam wieder heraus, und er steckte sie zurück
in die Brieftasche. Im Innern des Geldautomaten ratterte es. Er lächelte,
als er daran dachte, kicherte. Wenn die Menschen wüßten,
dachte er. Wenn die Menschen wüßten, was sie erwartet. Der
weiße Zettel mit dem Kontoauszug wurde durch den Spalt herausgeschoben.
Er suchte nach seiner Brille, doch ihm fiel ein, daß sie in dem
Jackett steckte, das er getragen hatte, als er zum Sportboothafen gegangen
war. Einen Moment lang ärgerte er sich darüber, daß
er sie vergessen hatte. Er suchte die Stelle, wo das Licht der Straßenlaterne
am hellsten war, und betrachtete blinzelnd den Kontoauszug.
Die automatische Überweisung vom Freitag war verbucht. Ebenso die
Barauszahlung vom Tag zuvor. Sein Guthaben betrug 9765 Kronen. Alles
in bester Ordnung. Was dann geschah, kam ohne jede Vorwarnung. Ihm war,
als habe ein Pferd ihn getreten. Ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn.
Er fiel vornüber, die Hand krampfte sich um den Zettel mit den
Zahlen. Als sein Kopf auf dem kalten Asphalt aufschlug, erlebte er einen
Augenblick der Klarheit. Sein letzter Gedanke war, daß er nichts
begriff. Dann wurde er von einem Dunkel umschlossen, das von allen Seiten
gleichzeitig kam. Mitternacht war gerade vorüber.
Es war Montag, der 6. Oktober 1997.
Ein weiterer Lastzug fuhr auf dem Weg zur Nachtfähre vorüber.
Dann war alles wieder still.
Danke an den Zsolnay Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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