Leseprobe
1987
Sie wusste, dass sie nachts ins Bett pinkeln würde,
und sie wusste, dass Tante Peggy dann böse werden würde.
Das war immer so. Immer, wenn sie bei Tante Peggy schlief und nicht
bei ihrer eigenen Mama, passierte es.
Mami. Sie wollte bei Mami sein. In ihrem eigenen Bett in ihrem eigenen
Zimmer schlafen mit der Puppe Trudi unter der Decke und der Puppe Bamba
unter dem Kopfkissen. So sollte es sein; wenn es so war und wenn sie
mit Mamis gutem Geruch in der Nase einschlief, dann passierte es nie,
dass das Bett nass war, wenn sie aufwachte. Jedenfalls fast nie.
Tante Peggy roch überhaupt nicht wie Mami. Sie wollte nicht, dass
Tante Peggy sie anfasste, und das tat sie glücklicherweise auch
nie. Aber sie schlief im gleichen Zimmer, auf der anderen Seite eines
blauen und ein bisschen roten Vorhangs mit irgendwelchen Drachen drauf,
vielleicht waren es auch Schlangen, und manchmal schlief da noch jemand.
Sie mochte das nicht.
Trudi und Bamba mochten es auch nicht; bei Tante Peggy waren sie gezwungen,
beide unter dem Kopfkissen zu schlafen, damit sie kein Pipi abbekamen.
Das war unbequem und hart, aber sie konnte die Puppen natürlich
nicht zu Hause lassen, wie Mami es vorgeschlagen hatte. Manchmal kam
Mami wirklich auf die merkwürdigsten Ideen.
Eine Woche, hatte sie beispielsweise gesagt. Du musst für eine
Woche zu Peggy, ich werde wegfahren und viel Geld verdienen. Wenn ich
zurückkomme, kriegst du ein neues Kleid und so viel Eis und Bonbons,
wie du willst.
Eine Woche, das waren viele Tage. Sie wusste nicht genau, wie viele,
aber es waren mehr als drei, und die ganze Zeit würde sie gezwungen
sein, in diesem ekligen Zimmer zu schlafen, vor dessen Fenster Autos
und Busse auf der Straße entlang fuhren, hupten, bremsten und die ganze
Nacht mit den Reifen quietschten. Sie würde ins Bett pinkeln, und
Tante Peggy würde gar nicht auf die Idee kommen, das Bettzeug zu
wechseln, sondern es nur tagsüber zum Trocknen über den Stuhl
hängen, und Trudi und Bamba würden so traurig sein, oh, so
traurig, dass sie sie nicht würde trösten können, wie
sehr sie das auch versuchte.
Ich will nicht bei dieser blöden Tante Peggy sein, dachte sie.
Ich wünschte, Tante Peggy wäre tot. Wenn ich Gott bitte, sie
wegzubringen und er das tut, dann verspreche ich nicht einen einzigen
Tropfen mehr ins Bett zu pinkeln, und wenn es dann Morgen ist, dann
kommt Mami statt Tante Peggy, nimmt mich mit nach Hause, und ich muss
nie wieder hierher zurück. Nie wieder.
Hörst du, lieber Gott, lass Mami zurückkommen, nimm das Pipi
und Tante Peggy weg. Lass sie sterben oder setze sie in ein Flugzeug
und flieg mit ihr zum Land der Tausend Inseln.
Sie faltete die Hände so fest, dass ihr die Finger wehtaten, und
Trudi und Bamba beteten zusammen mit ihr mit all ihrer Kraft, deshalb
würde es vielleicht, vielleicht ja doch so geschehen, wie sie es
sich wünschte.
Auf dem Weg zu seiner Arbeit kaufte der Privatdetektiv
Maarten Verlangen am Dienstag, dem 3. Juni, sechs Bier und sechs Staubsaugerbeutel
ein.
Ersteres war Routine, Zweiteres war außergewöhnlich. Seit Martha
sich vor fünf Jahren hatte von ihm scheiden lassen, waren seine
Putzambitionen nicht mehr so ausgeprägt gewesen wie jetzt, und
mit dem etwas fremden Gefühl eines guten Gewissens schloss er die
rostschutzfarbene Eisentür auf und nahm sein Büro in Beschlag.
Das war schnell geschehen. Der Raum maß drei mal vier Meter, und kein
Architekt der Welt wäre auf die Idee gekommen, »Büroraum«
auf seine Zeichnung zu schreiben. Der Raum lag in einer der verrußten
alten Mietskasernen an der Armastenstraat, gleich neben den Eisenbahngleisen.
Vom Hauseingang ging es eine halbe Treppe nach unten; war offenbar anfangs
als eine Art von Lagerraum für den Hausmeister gedacht gewesen,
ein Platz, wo das eine oder andere, was die Mieter nicht mehr brauchten,
verwahrt werden konnte: Toilettenschüsseln, Duschschläuche,
Kochplatten und sonstige Utensilien der abgenutzten Sorte.
Aber jetzt war es also ein Büro. Wenn auch kein besonders schickes.
Die Wände waren von Beginn an mit schmutzigem, erdfarbenem Putz
bedeckt, der Boden war vor zwei oder drei Jahrzehnten dunkelblau gestrichen
worden, und die einzige natürliche Lichtquelle war ein klein bemessenes
Fenster auf Bodenhöhe, ganz oben unter der Decke. Die Möblierung
war einfach und funktional. Ein Schreibtisch mit einem Schreibtischstuhl.
Ein grauer Aktenschrank aus Metall. Ein niedriges Bücherregal,
ein brummender Fünfzig-Liter-Kühlschrank, ein Wasserkocher
sowie ein abgewetzter Besuchersessel. An einer Wand hing ein Kalender
mit Reklame für eine Tankstelle, an einer anderen die Reproduktion
einer düsteren Piranesi-Lithographie. Die anderen beiden waren
leer.
Abgesehen von dem Kalender, den Verlangen mit schlafwandlerischer Sicherheit
jedes Jahr Ende Januar oder Anfang Februar austauschte, sah das Büro
haargenau so aus wie in den letzten vier Jahren. Seit er eingezogen
war. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr es die Umgebung vermag,
dem Leben Sicherheit und Stabilität zu geben, pflegte er gern zu
denken. Man sollte nicht den Staub der Jahre verachten, der sich auf
unsere Schultern legt.
Er schaltete die Deckenlampe ein, weil die Schreibtischlampe kaputt
war. Hängte seine dünne Windjacke an einen Haken an der Türinnenseite
und stellte das Bier in den Kühlschrank.
Ließ sich sodann auf dem Schreibtischstuhl nieder und legte die Staubsaugerbeutel
in die rechte, oberste Schublade. Er wollte sie nicht hier im Büro
benutzen. Ganz und gar nicht. Den Staubsauger der Marke Melfi, den er
besaß - eines der wenigen Dinge, die er nach der Scheidung mitbekommen
hatte, möglicherweise, weil er bereits zur Zeit seiner Ehe so schlecht
funktioniert hatte -, verwahrte er in seiner Wohnung in der Heerbanerstraat.
Und dort wollte er sie benutzen. Womit die Grenze erreicht war. Er überlegte
einen Moment, ob er die Tüten nicht doch lieber auf dem Schreibtisch
platzieren sollte; das Risiko, dass sie nach Ende des Arbeitstages in
der Schublade zurückbleiben würden, war zweifellos vorhanden,
aber er entschloss sich, es zu riskieren. Staubsaugertüten passten
nun mal nicht gerade zu dem Inventar, das ein Besucher in einem renommierten
Detektivbüro vorzufinden erwartete.
Verlangens Detektivbüro. So stand es auf dem einfachen, aber stilvollen
Schild draußen an der Tür. Er hatte es selbst eingraviert, es hatte
ihn einen Vormittag gekostet, aber das Ergebnis sah gar nicht so schlecht
aus.
Er schaute auf seinen Terminkalender. Da gab es eine Notiz wegen eines
Termins mit der Versicherungsgesellschaft am Nachmittag. Ansonsten war
er leer. Er kontrollierte den Anrufbeantworter, ob er irgendwelche aufgezeichneten
Mitteilungen enthielt. Nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete
es und zündete sich eine Zigarette an.
Schaute auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach zehn.
Wenn ich keinen Kunden vor zwölf Uhr kriege, dann esse ich schnell
was im Oldener Maas, und anschließend gebe ich mir die Kugel, dachte
er und lächelte verbissen vor sich hin.
Das war ein Zwangsgedanke, der ihm jeden Morgen in den Sinn kam, und
eines Tages würde er ihn in die Tat umsetzen. Er war siebenundvierzig
Jahre alt, und die Menschen, die ihn vielleicht vermissen könnten,
waren an dem Daumen einer Hand abzulesen.
Sie hieß Belle und war seine Tochter. Siebzehn, fast achtzehn. Er betrachtete
eine Zeit lang ihr lachendes Gesicht auf dem Foto neben dem Telefon
und trank noch einen Schluck Bier. Zwinkerte die Tränen fort, die
der bittere Geschmack hochkommen ließ, und rülpste.
Wie hat so ein Schwein wie ich nur so eine Tochter kriegen können?,
überlegte er.
Auch das war ein immer wieder auftauchender Gedanke. Überhaupt
gab es viele Wiederholungen in Maarten Verlangens Gehirn. In erster
Linie alte, trübe Fragen ohne Antwort. In klaren Stunden kam es
vor, dass diese Tatsache ihn erschreckte.
Aber es gab ein Gegenmittel gegen klarsichtige Ängste. Zum Glück.
Er trank noch einen Schluck und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.
Stand auf und stellte das Fenster auf Kipp. Setzte sich wieder.
Inzwischen war es dreizehn Minuten nach zehn geworden.
Sie rief kurz vor elf Uhr an und tauchte eine halbe Stunde später
auf.
Eine ziemlich große Frau um die Fünfunddreißig. Braunrotes, schulterlanges
Haar. Schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und klar gezeichneten
Zügen. Schlank und sportlich, aber dennoch mit einer sich deutlich
abzeichnenden Brust. Sie trug eine eng anliegende schwarze Hose und
eine weinrote Bluse mit sehr kurzen Ärmeln. Sorgsam gezupfte Augenbrauen.
Er fand, sie sah gut aus.
Sie ließ schnell den Blick durch den Raum schweifen. Verweilte eine
Sekunde auf dem Piranesi-Druck, bevor sie schließlich ihre Aufmerksamkeit
auf Verlangens düstere Visage richtete.
»You mind if we speak English?«
Verlangen erklärte, dass er die Sprache nicht vergessen hätte
in den letzten dreißig Minuten. So lange war es her, dass sie miteinander
telefoniert hatten. Sie verzog leicht den Mund und setzte sich auf den
Besucherstuhl. Schlug ein Bein über das andere und räusperte
sich. Verlangen streckte ihr die Zigaretten hin, aber sie schüttelte
abwehrend den Kopf. Holte stattdessen ihr eigenes Päckchen Gauloises
aus der Handtasche und zündete sich eine davon mit einem schlanken,
goldenen Feuerzeug an.
»Sie sind Privatdetektiv?«
Verlangen nickte.
»Davon gibt es nicht so viele?«
»Na, schon den ein oder anderen.«
»Fünf Stück hier im Ort.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe im Telefonbuch nachgesehen.«
»Alle stehen da wahrscheinlich nicht drin.«
»Nein? Na, jedenfalls habe ich Sie dort gefunden.«
Verlangen zuckte mit den Schultern. Registrierte, dass sie eine kleine
Tätowierung ganz oben am linken Arm hatte, direkt unterhalb des
Blusenärmels. Es sah aus wie eine Schwalbe. Oder jedenfalls wie
ein Vogel. ***HK***
Er registrierte auch, dass sie ziemlich braun gebrannt war. Musste offenbar
schon mehrfach die Gelegenheit dazu gehabt haben, sich zu sonnen, dachte
er, obwohl es doch erst Anfang Juni war. Ihre Haut hatte einen angenehmen
Farbton, wie Café au lait. Er überlegte, was für ein Gefühl
es wohl war, mit den Fingerspitzen darüber zu streifen.
Aber vielleicht war sie ja auch nur ein gewöhnliches Solariumhuhn?
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Ein Überwachungsauftrag.«
»Ein Überwachungsauftrag?«
»Oder wie Sie es auch nennen. Das gehört doch in Ihr Repertoire?«
»Natürlich. Und was ist das für ein Objekt, das ich für
Sie beobachten soll?«
»Mein Mann.«
»Ihr Mann?«
»Ja. Ich möchte, dass Sie ihn ein paar Tage lang beobachten.«
»Verstehe.«
Er blätterte auf eine neue Seite seines Notizblocks und klickte
zweimal mit dem Kugelschreiber.
»Ihr Name, wenn ich darum bitten darf?«
Am Telefon hatte sie ihn nicht angeben wollen, und sie hatte sich nicht
vorgestellt, als sie hereinkam. Sie schien auch jetzt noch eine Sekunde
zu zögern, während sie den Rauch der Zigarette einsog.
»Barbara Hennan.«
Verlangen schrieb auf.
»Ich bin Amerikanerin. Mein Mädchenname ist Delgado. Ich bin mit
Jaan G. Hennan verheiratet.«
Er war erst zu der einzeln stehenden Versalie gekommen, als er inne
hielt.
Jaan G?, dachte er. Verdammt noch mal. Jaan G. Hennan.
»Wir wohnen seit ein paar Monaten hier im Land. Obwohl, mein Mann kommt
ja ursprünglich aus Maardam. Wir haben ein Haus unten in Linden
gemietet . dreißig Kilometer von hier, ich nehme an, Sie wissen, wo
das liegt?«
»Ja, natürlich.«
Gab es noch weitere Jaan G. Hennans? Vermutlich. Aber wie groß war die
Wahrscheinlichkeit, dass es einer der anderen war? Und wie .?
»Wie viel nehmen Sie an Honorar?«
»Das kommt darauf an.«
»Kommt worauf an?«
»Auf die Art des Auftrags. Zeitumfang. Kosten .«
»Ich möchte, dass sie meinen Mann ein paar Tage lang observieren.
Von morgens bis abends, Sie werden kaum Zeit für andere Aufträge
haben.«
»Warum wollen Sie, dass er überwacht wird?«
»Darauf möchte ich nicht näher eingehen. Ich wünsche
mir nur, dass Sie kontrollieren, was er vorhat und es mir hinterher
berichten. Okay?«
Sie zog eine Augenbraue hoch und wurde noch schöner.
Klassisch, dachte er. Das ist verflucht noch mal einfach klassisch.
Es kam nicht oft vor, dass er sich wie Philip Marlowe fühlte, zumindest
nicht in nüchternem Zustand. Vielleicht sollte er es einfach genießen,
so lange es anhielt.
»Das ist kein ungewöhnlicher Auftrag«, sagte er. »Aber ich habe
noch einige Fragen.«
»Bitte schön.«
»Distanz und Diskretion, beispielsweise?«
»Distanz und .?«
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»Wie detailliert möchten Sie es haben? Wenn er ins Restaurant geht,
wollen Sie auch wissen, was er isst, mit wem er sich unterhält,
was gesprochen wird .«
Sie unterbrach ihn, indem sie die rechte Hand zehn Zentimeter über
den Tisch hob. Die Schwalbe bewegte sich sinnlich.
»Ich verstehe, was Sie meinen. Nein, es genügt, wenn ich alles
in groben Zügen erfahre. Sollten wir überdies spezielle Einzelheiten
interessant erscheinen, dann kann ich Ihnen das ja noch mitteilen, oder?«
»Selbstverständlich. Sie bestimmen die Regeln. Und er soll nicht
merken, dass ich ihn beschatte?«
Wieder zögerte sie.
»Möglichst nicht.«
»Darf ich fragen, was er arbeitet?«
»Er hat eine Importfirma. Gerade erst gegründet natürlich
. aber so was Ähnliches hat er schon in Denver gemacht.«
»Welche Produkte?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Verschiedene. Teile für Computer beispielsweise. Was spielt denn
der Beruf meines Mannes in diesem Zusammenhang für eine Rolle?
Ich will doch nur, dass Sie ihn im Auge behalten.«
Verlangen faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und machte
eine kurze Pause.
»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Frau Hennan«, sagte er dann
mit einem, wie er hoffte, rau und männlichem Ton, ». darf ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass ich den Auftrag noch nicht angenommen
habe. Sie möchten, dass ich Ihren Mann beschatte, aber wenn ich
es tue, dann muss ich wissen, worauf ich mich einlasse . Ich bin es
nicht gewohnt, die Katze im Sack zu kaufen. Wer das tut, wird man in
dieser Branche nicht alt.«
Sie runzelte die Stirn. Offensichtlich war ihr die Möglichkeit,
er könnte ablehnen, gar nicht in den Sinn gekommen war.
»Ich verstehe«, sagte sie. »Entschuldigen Sie. Aber Sie sind doch dennoch
einer gewissen . Diskretion verpflichtet, oder?«
»Aber natürlich. In den angemessenen Grenzen. Aber ohne gewisse
Informationen habe ich einfach nicht die Möglichkeit, den Auftrag
in zufrieden stellender Art und Weise auszuführen. Ich muss etwas
über die Gewohnheiten Ihres Mannes wissen. Wie sein Arbeitstag
aussieht. An welchen Orten er sich aufhält, welche Menschen er
zu treffen pflegt. Und so weiter. Am liebsten würde ich natürlich
erfahren, was dahinter steckt . warum Sie möchten, dass er überwacht
wird, aber ich akzeptiere es, dass Sie mir diese Informationen nicht
geben möchten.«
Sie machte eine leichte Kopfbewegung von rechts nach links und betrachtete
erneut den Piranesi-Druck einige Sekunden lang.
»Nun ja, ich respektiere natürlich Ihren Berufscodex. Was seine
Gewohnheiten angeht, so sind sie nicht besonders ausgefallen. Wir wohnen
wie gesagt in diesem Haus am Rande von Linden. Er hat sein Büro
im Zentrum, wo er jeden Tag sechs, sieben Stunden verbringt. Manchmal
essen wir mittags zusammen, wenn ich etwas in der Stadt zu tun habe.
Ich bereite gewöhnlich das Abendessen für sieben Uhr vor,
aber ab und zu isst er auch mit einem Geschäftspartner . unser
Bekanntenkreis ist ziemlich begrenzt, wir wohnen ja erst seit ein paar
Monaten hier. Ja, das ist im Großen und Ganzen alles. Die Wochenenden
sehen natürlich ganz anders aus, da sind wir meistens die ganze
Zeit zusammen, da brauche ich Ihre Hilfe nicht.«
Verlangen hatten sich eifrig Notizen gemacht, während sie redete.
Jetzt kratzte er sich im Nacken und schaute auf.
»Welche Bekannten haben Sie?«
Sie fischte eine neue Zigarette heraus.
»Eigentlich gar keine. Mein Mann trifft natürlich durch seine Arbeit
so einige Leute, aber ich für meinen Teil habe eigentlich nur die
Trottas, an die ich mich wenden kann, wenn etwas sein sollte . das sind
unsere direkten Nachbarn, ehrlich gesagt ziemliche Langweiler, aber
jedenfalls haben wir uns schon gegenseitig zum Essen eingeladen. Er
ist Pilot, sie ist zu Hause. Außerdem haben sie noch zwei unerzogene
Kinder.«
»Im Trotzalter?«
»Ja.«
Verlangen machte sich Notizen.
»Ein Foto?«, fragte er. »Ich brauche ein Foto von Ihrem Mann.«
Sie holte einen weißen Umschlag aus der Handtasche und reichte ihm den.
Er nahm zwei Fotos heraus, beide im Format zehn mal fünfzehn Zentimeter.
Jaan G. Hennan betrachtete ihn mit ernstem Blick.
Zehn Jahre älter, aber der gleiche Jaan G., da gab es keinen Zweifel.
Die Fotos schienen ziemlich neu zu sein, nach allem zu urteilen stammten
beide vom selben Film, und beide waren im Seitenprofil aufgenommen.
Das eine von rechts, das andere von links. Die gleichen intensiv bohrenden
Augen. Die gleichen strammen Lippen und die gleiche kräftige Wangenpartie.
Das selbe, kurz geschnittene dunkle Haar. Er schob die Fotos zurück
in den Umschlag.
»All right«, sagte er. »Ich mache es. Unter der Voraussetzung, dass
wir uns bezüglich der Details einig werden.«
»Welcher Details?«
»Der Zeit. Der Art der Durchführung. Des Honorars.«
Sie nickte.
»Nur ein paar Tage, wie gesagt. Auf jeden Fall nicht länger als
zwei Wochen. Wenn Sie morgen anfangen könnten, wäre ich Ihnen
dankbar . Was meinen Sie mit der Art der Durchführung?«
»Vierundzwanzig Stunden am Tag oder nur zwölf? Der Grad der Diskretion
und der Intensität . ja, was ich schon erwähnt habe.«
Sie zog an der Zigarette und blies den Rauch in einem schmalen, langen
Strang aus. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass sie normalerweise
gar nicht rauchte. Dass sie sich nur ein Päckchen Gauloises gekauft
hatte, um Eindruck zu machen. Was für ein Eindruck das auch immer
sein mochte.
»Wenn er nicht zu Hause ist«, entschied sie. »Das genügt. Sie beobachtete
ihn von dem Moment an, wenn er morgens los geht, bis zu dem Zeitpunkt,
wenn er nach Hause kommt .«
»Und er soll mich nicht entdecken.«
Es entstand eine weitere kurze Pause, und er notierte sich, dass sie
sich in diesem Punkt immer noch nicht voll und ganz entschieden hatte.
»Nein«, sagte sie. »Achten Sie darauf, dass er Sie nicht sieht. Wenn
ich meine Meinung ändere, dann werde ich Sie das wissen lassen.
Wie viel muss ich bezahlen?«
Er schien nachzudenken und kritzelte ein paar Ziffern auf den Block.
»Dreihundert Gulden pro Tag plus Unkosten.«
Das schien sie nicht zu überraschen.
»Vorschuss für drei Tage. Es kann sein, dass ich gezwungen bin,
mir ein Zimmer in Linden zu nehmen . Wie möchten Sie den Bericht
haben?«
»Einmal am Tag«, sagte sie, ohne zu zögern. »Es wäre mir lieb,
wenn Sie mich jeweils irgendwann vormittags anrufen. Dann bin ich immer
zu Hause. Wenn ich denke, dass es notwendig ist, können wir uns
treffen, aber ich hoffe, das wird erst einmal nicht der Fall sein.«
Verlangen hatte ein weiteres »Warum?« auf der Zunge, aber es gelang
ihm, es hinunterzuschlucken.
»Gut«, sagte er stattdessen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Dann gehe ich davon aus, dass wir uns einig sind. Darf ich Sie noch
um Ihre Adresse und Telefonnummer bitten, dann werde ich morgen früh
anfangen . und um meinen Vorschuss natürlich.«
Sie zog eine dunkelrote Brieftasche heraus und holte zwei Fünfhundertguldenscheine
hervor. Und eine Visitenkarte.
»Tausend«, erklärte sie. »Sagen wir erst einmal bis auf weiteres
tausend.«
Er nahm das Geld und die Karte entgegen. Sie stand auf und streckte
ihm über den Tisch hinweg die Hand entgegen.
»Danke, Herr Verlangen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die Sache
übernehmen. Das wird . das wird mein Leben leichter machen.«
Wirklich?, dachte er und ergriff ihre Hand. Und wie? Sie schaute ihm
für einen langen Bruchteil einer Sekunde direkt in die Augen, und
er überlegte wieder, was für ein Gefühl das wohl wäre,
einen anderen Teil ihres Körpers anzufassen als nur die feste und
angenehm kühle Handfläche.
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach er.
Danke an den btb Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
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